Ein Blick auf die Rolle des Vergaberechts bei der Stärkung der innereuropäischen Arzneimittelproduktion und der Resilienz der Lieferketten im Gesundheitssektor nach dem ALBVVG

Titeldaten
  • Gabriel, Marc; ; Heusmann, Henrike
  • PharmR - Pharma Recht
  • Heft 10/2023
    S.561-570
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Aufsatz

Abstract
In ihrem Beitrag behandeln die Autoren das Arzneimittel-Lieferengpassbekämpfungs- und Versorgungsverbesserungsgesetz (ALBVVG) vom 19.07.2023. Die Regelungen zum Abschluss von auszuschreibenden Arzneimittelrabattvereinbarungen zwischen den gesetzlichen Krankenkassen oder ihren Verbänden und pharmazeutischen Unternehmen wurden umfangreich geändert. Fortan ist für einen Teil des Auftragsvolumens eine Produktion der Wirkstoffe in der EU bzw. im EWR vorgeschrieben. Die Autoren führen an, dass es in den vergangenen Jahren – besonders in der Hochphase der Covid-19-Pandemie – oftmals zu Lieferausfällen bei wichtigen Arzneiwirkstoffen gekommen sei. Das betreffe vor allem Generika, die in Deutschland mit knapp 80 % die zentrale Rolle bei der Versorgung der Bevölkerung mit verschreibungspflichtigen Arzneimitteln ausmachten. Vor allem der Preisdruck auf dem Generikamarkt im vergangenen Jahrzehnt habe zu einer Konsolidierung der Lieferketten geführt. Die Konsequenz sei, dass der überwältigende Großteil der Wirkstoffe für den europäischen Arzneimittelmarkt heute in China und Indien in wenigen Provinzen hergestellt werde. Durch das ALBVVG solle die Anfälligkeit der Versorgungssituation durch eine teilweise Rückverlagerung der Produktion von Arzneimitteln nach Europa und eine entsprechende Konsolidierung der Lieferketten entschärft werden. Zukünftig sei durch den § 130a Abs. 8a und 8b SBG V eine Losaufteilung schon nach sozialgesetzlichen Regelungen – und nicht allein durch § 97 Abs. 4 GWB – vorgesehen. Die Neuregelung bestimmt, dass bei mindestens der Hälfte der Lose die für die Herstellung der Arzneimittel verwendeten Wirkstoffe vollständig bzw. zu mindestens 50 % in der EU bzw. in einem Vertragsstaat des EWR produziert werden müssen. Gemäß § 130a Abs. 8a Satz 1 SGB V ist der Anwendungsbereich auf patentfreie Antibiotika beschränkt. Allerdings kann er gemäß § 130a Abs. 8b Satz 5 SGB V auf weitere patentfreie Arzneimittel (Generika) ausgeweitet werden. Den Verfassern zufolge dürfe die Ausschreibung von wirkstoffbezogenen Fachlosen mit EU/EWR-Produktionsvorbehalt durch die Neuregelung bedeutsam erleichtert werden. Die Einführung von Standort- oder Lieferkettenkriterien in Arzneimittelrabattvertragsausschreibungen wäre bereits vor Inkrafttreten des ALBVVG theoretisch möglich, aber wegen hoher Rechtfertigungsanforderungen unter Verhältnismäßigkeitserwägungen jedoch nur schwierig umsetzbar gewesen. Aufgrund der durch den Gesetzgeber im ALBVVG vorgenommenen Wertung und Vorentscheidung entfalle dieser Begründungsaufwand künftig. Die im SGB V zwingend vorgegebene Losaufteilung liege bereits außerhalb des Prüfungsumfangs der Vergabenachprüfungsinstanzen. Zudem werde der Rechtfertigungsaufwand für die ausschreibenden Krankenkassen im Einzelfall allein aufgrund der Existenz dieser gesetzlichen Regelung spürbar sinken. Überdies könne auch der EuGH angesichts des gegenwärtigen europäischen regulatorischen Umfelds die Sonderstellung EU/EWR-produzierter Wirkstoffen im deutschen Recht als mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar anerkennen. Für die Hälfte der Lose bestehe schon kein Europavorbehalt und von den mit dem Erfordernis der EU/EWR-Produktion belegten Losen könne die Hälfte der Wirkstoffproduktion in Staaten erfolgen, die das GPA ratifiziert haben bzw. in der Freihandelszone der EU liegen. Der Zugang zu deutschen Arzneimittelrabattverträgen bliebe daher für Hersteller bzw. Waren aus diesen Staaten weitgehend offen. Eine Anpassung des europäischen Vergaberechts, um die Vorgabe eines Produktionsstandortes in der EU zu erleichtern, sei derzeit nicht zu erwarten, obwohl neben Deutschland 18 weitere Mitgliedstaaten der EU in einem Non-Paper vom Mai 2023 die bisherigen Maßnahmen auf EU-Ebene zur Bekämpfung von Arzneimittelengpässen für nicht ausreichend halten und einen Critical Medicines Act mit dem Ziel, den europäischen Marktanteil für sogenannte kritische Arzneimittel zu erhöhen, fordern.
Linda Siegert, ESCHE SCHÜMANN COMMICHAU Rechtsanwälte Wirtschaftsprüfer Steuerberater Partnerschaftsgesellschaft mbB, Hamburg